Kurt Schwerdt – Mit Mut! Mit Verstand! Mit Draufgängertum!

Heute möchte ich aus dem bewegten Leben meines 2007 in Biedenkopf verstorbenen Freundes Kurt Schwerdt berichten. Kaum einem anderen Menschen, den ich während meiner Recherchen kennenlernen durfte, sah man so augenscheinlich die persönliche Teilnahme am Zweiten Weltkrieges an. Dafür hat diese Zeit und die von ihm durchlebten und zum Teil extremsten Situationen eine ganz besondere Auswirkung auf dessen persönlichen und menschlichen Charaktereigenschaften.

“Der Mercedes fährt in einem Ansatz aus der Garage.  Als sich das Auto auf dem Kopfsteinpflaster befindet und in Richtung Ortsmitte rollt, nimmt er Fahrt auf. Vorbei am Stadtbrunnen, rechts ab auf die Hauptstraße und beschleunigt auf knapp 30 km/h.

Nach wenigen Minuten erreichen wir die B-253. Der Fahrer tritt das Gaspedal gut durch. Es ist recht viel Verkehr, dem wir uns fließend anpassen. Ständig kommen Fahrzeuge entgegen und wir müssen immer wieder vorbei an Fahrädern, die es im weiten Bogen zu überholen gilt. Als ein Wagen am rechten Fahrbahnrand steht, vermindert der Fahrer die Geschwindigkeit, setzt zur Vorbeifahrt an und tritt kräftig aufs Pedal. Schwungvoll beschleunigt der Mercedes auf über 80 km/h und zieht locker an dem Auto vorbei. Später geht es links ab, die Straße führt jetzt durch dichten Waldbestand und wird bedeutend enger. Während der nächsten drei serpentinenreichen Kilometer werden knapp 200 Höhenmeter überbrückt. Zwischen uns und dem Ziel zeigen sich Wandergruppen, Radfahrer und zwei langsam fahrende Autos, die den Verkehr behindern und die es zu überholen gilt.

Behindern lässt sich der Fahrer des Mercedes durch nichts und durch niemanden; sein ganzes Leben lang schon nicht. Er selbst ist bereits genügend körperlich behindert, wegen zwei Kriegsverletzungen, die er sich 1941 und 1943 zugezogen hat.

Der Fahrer ist Kurt Schwerdt, ein guter Freund von mir. Das Lenkrad kann er nur dank eines besonderen Knaufes bedienen, da ihm beide Hände fehlen, dennoch führt er den Wagen sicher und zielgerichtet. Keinen Augenblick während der knapp 10 Kilometer langen Strecke hat man befürchtet, dass er der Anforderung nicht gewachsen sein könnte. Durch die fehlenden Hände benötigt Kurt Schwerdt viel Hilfe, aber doch sehr viel weniger, als die meisten befürchten…”

Die Dinge im Leben, die man nicht ändern kann, die nahm Kurt Schwerdt einfach hin. Darüber hinaus hatte er den grenzenlosen Mut, das zu ändern, was in seinen Möglichkeiten lag – selbst wenn der Weg dorthin sehr steil und steinig sein sollte.

Kurt wurde 1919 in Thale im Harz geboren, aufgewachsen ist er in der Nähe von Magdeburg. Nach seinem Abitur entschloss er sich für eine Karriere bei der Wehrmacht, zuvor leistet er jedoch seinen Dienst im Reichsarbeitsdienst in Ziesa ab. Ab Herbst 1939 erfolgte die Grundausbildung im Infanterie-Ersatz-Bataillon 66 in Burg.

Mit der großen Begeisterung, die für die Zeit und das deutsche Volk üblich waren, wurde Kurt Soldat und nach der Grundausbildung erfolgte die Versetzung in das Infanterieregiment 66. Zum Jahresende 1939 war der Jahrgang 1919 mit knapp 570.000 Mann zum Dienst in der Wehrmacht voll erfasst worden, allerdings war nur ein kleiner Teil einberufen worden; die Masse der Rekruten war der Zuziehung zuvorgekommen und hatte sich freiwillig gemeldet. Nach der Grundausbildung wurde er in die 267. Infanteriedivision versetzt, mit welcher er am Frankreichfeldzug teilnahm.

„Wenn der Tod thematisiert wird, versucht man die Verlustzahlen des Gegners in Rechnung zu stellen. Dabei ist es überhaupt ein ganz leichtes mit dem Tod umzugehen, wenn man selbst weder den Geruch des Todes noch den Geruch von menschlichem Blut je eingeatmet hat! Wie der Tod und das Krepieren riechen sollte, das haben wir wenig später erfahren!“           Zitat Kurt Schwerdt

Ende Mai wurde die 267. Infanteriedivision dann in die Gefechte um die Festung Lille eingebunden. Es sollte entscheidende Schlacht geschlagen werden , die bei den eingeschlossenen französischen und britischen Truppen zur Kapitulation führen würde. Nach schweren Feuerschlägen der Artillerie trat die Infanterie, zu der auch Kurt Schwerdt gehörte, aus dem Kanalbogen bei Gondecourt zum Angriff an. Noyelles konnte schnell eingenommen werden, die Briten waren dem heftigen Artilleriefeuer erlegen, worauf sie sich in Gefangenschaft begaben, ohne dabei noch größeren Widerstand zu leisten. Erst mit dem weiteren Vorstoß in Richtung Emmerin änderte sich die Lage gravierend. Die dortigen Wälder waren mit englischen und französischen Widerstandsnes­tern gespickt, die nicht von dem Artilleriefeuer getroffen worden waren. Diese Verteidigung musste die Infanterie zuerst ausheben, wobei sich der Angriff festlief. Das Regiment stieß zwar durch den Wald hindurch und konnte in Emmerin eindringen, aber ver­wickelte sich dort in heftige Straßenkämpfe mit französischen und englischen Soldaten, die versuchten aus dem Liller Kessel zu entkommen.

„Obwohl Haubourdin direkt vor uns lag, konnten wir nicht in den Ort eindringen, sondern mussten uns unter heftigem Feuer in Emmerin eingraben. Den südlichen Ortsteil mit der Kirche und der Straßenverbin­dung nach Westen hatten wir fest in unserer Hand, allerdings hielten sich in den nördlichen Ortsteilen noch immer starke Kräfte versprengter Soldaten. Engländer, Franzosen, Marokkaner, die mehrfach versuch­ten, in entschlossenen Angriffen aus der Umklammerung durchzubrechen.“           Zitat Kurt Schwerdt

Während der Kesselschlacht um Lille kam es zu schwersten Gefechten, wobei Haus für Haus in jedem Straßenzug erkämpft werden musste. In der Bildmitte, schwer erkennbar, ein Spähpanzer Aufklärungsabteilung 267, der von den Franzosen im Nahkampf zerstört wurde.

Nachdem Lille gefallen war, erhielt die Division eine kurze Ruhepause. Zur gleichen Zeit war in Dünkirchen eine der größten Evakuierungsmaßnahmen der Kriegsgeschichte angelaufen. Unter pausenlosen Boden- und Luftangriffen waren die Briten dazu in der Lage, bis zum 4. Juni 1940 insgesamt mehr als 225.000 britische und 115.000 französische Soldaten nach England zu evakuieren.

Der weitere Vormarsch zielte in Richtung Reims zur Aisne, die am 14. Juni bei Neufchatel erreicht wurde. Am 16. Juni, die Franzosen versuchten sich zur Loire abzusetzen, zeigten sich unter dem Druck der 2. und 9. Armee deutliche Auflösungser­scheinungen und erste Verbände streckten die Waffen und begaben sich in Gefangenschaft.

“Später erfuhren wir, dass die neue französische Regie­rung bereits die Kapitulation angeboten hatte. Hitler aber weigerte sich, trotz spanischer Fürredner, das Kapitulations­angebot anzunehmen. Er bestand darauf, die Operationen der Wehrmacht unter schärfster Verfolgung des schon geschlagenen Feindes mit Nachdruck fortzusetzen.

Hitler wollte nicht einfach nur einen Sieg einstreichen, er wollte das französische Volk am Boden sehen und um Gnade winseln hören! Das sollte seine persönliche Rache für den Waffenstillstand von November 1918 in Compiègne werden. Der Feldzug gegen Frankreich sollte noch bis zum 22. Juni andauern, dann erst wurde Waffenstillstand geschlossen.“           Zitat Kurt Schwerdt

Aus dem Raum Lille marschierte Kurt Division in den Versammlungsraum bei Beaumont, wo sie für einige Tage in Ruhestellung blieb. Danach ging es über die Aisne, Marne und Seine bis am 22. Juni 1940 der Armancon bei Avallon erreicht war. In Avallon endete für Kurt Schwerdt der Feldzug gegen Frankreich, er wurde zum Unteroffizier befördert und kurz zum Waffenschul­lehrgang auf den Truppenübungsplatz Wildflecken kommandiert.

“Als ich nach dem Lehrgang zur Division zurückkehrte, konnte man bereits die Vorboten für den Feldzug gegen Russland erkennen.“           Zitat Kurt Schwerdt.

Kurz nach Beginn des Russlandfeldzuges verlor Kurt Schwerdt seine rechte Hand durch Granatsplitter, zudem hatte ein Infanteriegeschoss seinen Oberschenkel zerschlagen, in einer Operation wurde ihm die Hand abgenommen. Nach der Genesung erfolgte eine Kommandierung nach Döberitz bei Berlin, wo er als Lehroffizier tätig wurde. Kurt, der es hasste im Büro zu sitzen, erhielt nach persönlicher Vorsprache bei seinen Vorgesetzten eine Dienststelle, die ihm mehr als gut gefiel: es konnte wieder raus ins Gelände. Die Rekruten an seinen Erfahrungen in Frankreich und Russland teilhaben lasse, ihnen lernen, wie man am Leben bleibt. Bis dieser eine Tag im Mai 1943 kam. Die folgende Nacht endete mit der Totalamputation beider Hände. Totalamputation bedeutet “bis über beide Handgelenke hinweg”.

Nach Beförderung zum Oberleutnant – wenige Zeit vor dem Unglück in Döberitz.

Eine sich viel zu früh ereignete Detonation eines Darstellungskörpers für Artilleriefeuer hatte Kurt Schwerdt die Reste der rechten Hand zerfetzt und dabei seine linke Hand komplett zerrissen. Nach dem die schwersten Verletzungen bis in die späte Nacht versorgt wurden, kämpfen die Ärzte weitere lange Stunden um dessen Augenlicht. 60 Gramm Schwarzpulver hatten dafür gesorgt, dass Kurts Leben beinahe an diesem warmen Tag im Mai 1943 geendet hätte. Sein ehemaliger Kommandeur, Oberst Lothar Berger, schrieb ihm einen langen Brief:

“…Ich habe mich über Sie und den Schwung und das Temperament, mit dem Sie den Verlust Ihres rechten Armes getragen haben und man kann fast sagen überwunden hatten, immer von ganzen Herzen so sehr gefreut…” Zitat Lothar Berger

Trotzdem ihm beide Hände fehlten, verblieb er im aktiven Wehrdienst und wurde als Berufssoldat zum Jura-Studium abkommandiert. Nach Bildung des Volkssturmes im Oktober 1944 meldete sich Kurt Schwert zurück zum Dienst an der Front.

„Denn wenn jetzt alte Männer und Kinder als Ersatzheer die Wehrmacht unterstützen sollen, was mache ich hier in Marburg? Mein Körper ist wieder stabil und robust… Wenn die 16-jährigen und 60-jährigen an die Front geschickt werden, fühle ich mich dazu verpflichtet, mich ebenfalls zur Verfügung zu stellen!“

Kurt Schwerdt erlebte das letzte Kriegsjahr bis zur Kapitulation als Frontoffizier. Er wurde als Oberleutnant zum Adjutanten von Oberst Arthur, der während der Ardennenoffensive das Grenadierregiment 164 befehligte und ab März 1945 die Reste der Division bis zur Kapitulation im Ruhrkessel führte. In dieser Zeit erwarb sich er als einziger Soldat “Ohne Hände” die Ehrenblattspange, die Nahkampfspange und wurde zudem für die Verleihung des Deutschen Kreuzes in Gold sowie des Ritterkreuzes eingereicht.

Nach dem Krieg arbeitete Kurt Schwerdt als Rechtsanwalt bis er 1954 die Amtsgeschäfte des Bürgermeisters von Biedenkopf übernahm. Als Bürgermeister lenkte er seinen Augenmerk auf die Verschwisterung und Verbrüderung mit ehemaligen Feinden jenseits der Grenzen, denn als Soldat hatte er erlebt, wohin falsche Ideale führen können. Fortan setzte er sich mit aller Kraft für ein vereintes Europa ein und vollzog die Wandlung vom patriotischem Offizier zum bekennenden Europäer.

Bürgermeister Schwerdt trägt sich ins Goldene Buch der französischen Stadt La Charité ein.

Während seiner 18jährigen Amtszeit als Bürgermeister von Biedenkopf erfolgten Verschwisterungen mit europäischen Städten, darunter die mit La Charite sur Loire in Frankreich. Für seine Bemühungen, ein gemeinsames Europa zu erschaffen, wurde ihm 1970 das Europakreuz des Verbandes der Europäischen Frontkämpfers, der „Confederation Europeene des Anciens Combatants“ verliehen. Diese hohe und seltene Auszeichnung würdigen die Verdienste um Versöhnung und Freundschaft, mit dem Bestreben, ein geeintes Europa in Frieden und Freiheit zu schaffen. 1985 wurde die Stadt Biedenkopf für ihre hervorragenden Leistungen um die Verbreitung des europäischen Einigungsgedanken mit der Ehrenfahne des Europarates ausgezeichnet.

Über Kurt Schwerdts Leben ist 2017 ein spannendes Buch erschienen, das auf über 300 Seiten seine gesamten Kriegserlebnisse und das Wirken als Biedenkopfs Bürgermeister dokumentiert.

Das Buch eignet sich hervorragend zum verschenken oder selbstschenken. Es ist im Treditionsverlag und über Amazon erhältlich. Selbstverständlich kann das Buch auch direkt über den Autor erworben werden.

Hardcover, 308 Seiten

Größe: 16,8 cm x 23,0 cm

29,90 €,

 

 

Ralf Anton Schäfer